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In mir ist tiefe Traurigkeit verankert

von Nicole Schriever
15.07.2020

Als Kind war ich meistens alleine, meine einzige Gesellschaft war meine Dackelhündin „Lady“. Ich habe in einer Ecke in meinem Zimmer gekauert, Lady ganz dicht bei mir und habe Bücher verschlungen. Von Fury, dem schwarzen Hengst und von Winnetou, dem mutigen Häuptling der Apatschen. Wenn ich später mit meinem kleinen rosa Fahrrad alleine durch die ostfriesische Landschaft fuhr, den Dackel hinten im Korb sitzend, war ich eigentlich eine Indianerin auf meinem schwarzen Hengst mit langer Mähne. Ich sang Lieder auf indianisch und flüsterte Geheimnisse, in die flatternden Ohren von Lady. Irgendwann wurde ich beim Singen erwischt. Ausgelacht - Was singst du für ein Kauderwelsch? Bist du nicht richtig im Kopf? Ich lief durch das leere Haus und aß Schokolade. Ich stöberte in den Sachen meiner Eltern, schnupperte an dem Parfüm und stahl Kleinigkeiten, um mich nicht so einsam zu fühlen. Mit Schätzen in meinem Kleiderschrank verborgen, fühlte ich mich mit den Menschen verbunden. Auch wenn ich einsam war, so war es doch gut, denn wenn ich alleine war, dann war ich in Sicherheit. Ich - Lady - Essen und Geschichten. Dann tat mir niemand etwas an. Ich hatte aufgehört in fremden Sprachen zu singen, aber ich habe nicht aufgehört mir selbst Geschichten zu erzählen. Diese erzählte ich - auch den anderen Mädchen in der Schule. Von Ausflügen mit meinen Eltern, von Freundinnen, die mit mir spielten und Abenteuer, die ich erlebte... Aber ich flog immer wieder auf mit meinen Geschichten. Ich war die Lügnerin. Für mich waren meine Geschichten, die einzige Möglichkeit die Realität zu überleben. Was hätte ich erzählen sollen? Vom alleine sein, heimlich essen und der Angst? Irgendwann begannen die Migräne-Attacken. So schlimm - dass ich mit meinem Kopf gegen die Zimmerwände schlug, damit diese Schmerzen aufhörten. Ich wurde zu Kinderpsychologen gebracht. Dort sollte ich ein Bild malen... Ich malte Pferde. Was sonst? „Alles in Ordnung mit ihrer Tochter.“ Mit acht Jahren eine perfekte Lügnerin. Lady starb und ich aß alleine weiter. Mit 17 begann ich mich mit dem Thema Trauma zu beschäftigen und eine andere Art der Reise begann. Ich studierte und begann Frauen zu unterstützen. Ich arbeitete im Frauenhaus und im Opferschutz, leitete Selbsthilfegruppen. Die Migräne wurde besser, aber ich konnte nicht schlafen. Das hatte ich mir abgewöhnt - zu gefährlich. Mit 40 war ich gerade mit Familienstellen beschäftigt, als eine Teilnehmerin mir The Work empfahl. Byron Katie schien mir zunächst nicht viel Neues zu bieten. Aber ich konnte meine tiefe Traurigkeit nicht überwinden. Also stöberte ichstöberte im Internet und zufällig startete zwei Wochen später ein sogenanntes „Summercamp“ in Oberlethe. 10 Minuten von mir entfernt. Ich glaubte auch damals nicht an Zufälle und meldete mich an. Es folgte meine erste Work: „In mir ist tiefe Traurigkeit verankert“ Meine Güte, habe ich geweint.. - und geweint - und geweint... „In mir ist tiefe Traurigkeit verankert, ist das wahr?“ „Ja!“ „In mir ist tiefe Traurigkeit verankert, kann ich mit absoluter Sicherheit wissen, dass es wahr ist?“ „JA !“ „Wie reagiere ich, was passiert, wenn ich diesen Gedanken glaube?“ Dann überwältigte mich die Traurigkeit, dann erinnerte ich mich an all die Momente, in denen ich traurig und alleine gewesen war. Ich spürte die Tränen über mein Gesicht laufen. Ich sah, wie ich mein ganzes Leben voller Depressionen verbringen würde. Meine Zukunft wäre geprägt von meiner Vergangenheit, niemals würde ich aus diesem Teufelskreis aussteigen können. Alles in meinem Leben wäre düster und hoffnungslos, geprägt von Trauer und Einsamkeit. Meine Begleitung hat mich lange weinen lassen, als ich mich beruhigte fragte sie mich: „Wer wärst du ohne diesen Gedanken?“ Eine Weile saß ich still da. Ich konnte mir in diesem Moment kaum vorstellen ohne diesen Gedanken zu sein. Doch langsam, ganz langsam tauchte ein Lächeln auf. Ich musste an meinen schwarzen (ostfriesischen) Humor denken, der mich immer durch alles getragen hatte. „Humor ist, wenn Frau trotzdem lacht.“ Wieviel Freude mir meine Tochter Miriam machte und wieviel Spaß wir immer gemeinsam hatten. „Welche Umkehrung fällt dir ein?“ Nach dieser neuen Erkenntnis, fiel mir diese Umkehrung sehr leicht. „In mir ist tiefe Freude verankert“. 1. Die Freude meine Tochter zu lieben. 2. Meine Freude an der Natur, wenn ich mit meinem Hund spazieren gehe. 3. Meine Fähigkeit mich auch aus den dunkelsten Zeiten herauszuwinden und sei es mit einer Tasse Tee, das Gesicht in die Sonne zu halten. Nächste Umkehrung: „In mir ist tiefe Traurigkeit nicht verankert“. Hier musste ich doch eine ganze Weile in mich hineinhorchen, bis vor meinem inneren Auge ein Bild auftauchte. Ich auf dem Meer der Traurigkeit, mit einem Anker fest im Grund. „In mir ist tiefe Traurigkeit - nicht verankert..." Ich könnte den Anker einfach heben und in die See der Freude stechen, oder auf dem Meer der Leichtigkeit segeln... Nur ich lege mich in der Traurigkeit an die Kette. Was für eine wunderbare, lebensverändernde Erkenntnis. Meine erste Work. ( heute bin ich frei von Migräne Attacken und kann schlafen )

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