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Auf dem Holzweg

von Ute Netzmann
24.09.2020

Warum sieht der andere nicht, dass er auf dem Holzweg ist? Ich will, dass er sieht, dass ich Recht habe.

Da steht er mir gegenüber und ich kann es einfach nicht glauben, dass er so anders denkt als ich. Seine Sichtweise regt mich echt auf.

Solch eine Situation hat wohl jeder schon einmal erlebt. In den letzten Monaten jedoch betrifft dieser Konflikt viele Menschen und bringt sie im Miteinander an ihre Grenzen. Grundüberzeugungen prallen aufeinander und lösen starke Emotionen aus. Corona - ein gefährliches Virus? Oder vergleichbar mit einer mittelschweren Grippe und völlig überzogene, unsinnige Maßnahmen?

Warum kann der andere nicht das sehen, was ich sehe? Ich will, dass er sieht, dass er auf dem Holzweg ist! Ich bin absolut überzeugt davon, dass ich die Sache richtig einschätze. Fühle mich durch seine Sichtweise angegriffen, provoziert und bin beleidigt. Fühle mich getrennt von ihm. Will unbedingt klarstellen, dass er sich da irrt. Ich halte mich für schlauer und … ups… ihn für dümmer als mich. Aber ich kann nicht anders. Ich kann mir das einfach nicht anhören. Kann kein Verständnis oder Mitgefühl für ihn aufbringen. Jetzt sofort soll er erkennen, was ich erkannt habe. Ich suche den schnellsten Weg, um ihn zu überzeugen. Sehe meine heile Welt und meine Ordnung gefährdet. Am liebsten würde ich den Ausschaltknopf drücken oder den Hebel finden, mit dem ich schlagartig seine Denkweise ändern kann.  Ich höre ihm nicht zu, falle ihm ins Wort, schleudere ihm meine Argumente entgegen und realisiere nicht, dass uns das keinen Schritt weiterbringt. Eine Annährung ist hier in diesem Moment offensichtlich nicht möglich. Nicht mit einem kurzen und auch nicht mit einem nicht enden wollendem Schlagabtausch.

Also stopp, innehalten, tief Luft holen, still werden…. Es tut weh. Ja, jetzt kann ich die Trauer spüren, die hinter der Wut steht. Aus der Wut heraus knallen wir uns Dinge vor den Latz. Die Wut ruft laut „Ich will, dass er sieht, dass er auf dem Holzweg ist!“. Die Trauer sagt leise: „Ich wünsche mir Verständnis und Nähe.“

Wenn ich in mich hineinspüre merke ich, dass ich gar nicht auf diese Art und Weise mit ihm reden will. Es fühlt sich nicht gut an, wenn ich ihm seine Sichtweise auf die Dinge nicht zugestehe. Vermutlich geht es ihm dann genau so wie mir. Denn damit greife ich ihn ebenso an, provoziere und beleidige ihn. Wie will ich ihn für meine Sichtweise gewinnen, wenn ich ihn nicht ernst nehme, für dümmer als mich halte und damit eine gewisse Art von Arroganz an den Tag lege? Wie will ich bei ihm Punkte machen, wenn ich ihm nicht wirklich zuhöre, ihm das Wort abschneide und keine Empathie für ihn aufbringen kann?

 In meiner Wut kann ich nicht erkennen, dass meine Art und Weise das Thema anzugehen nicht förderlich ist. Okay, also nicht er sollte sehen, dass er da auf dem Holzweg ist, sondern ich sollte sehen, dass ich mit dem Holzhammer unterwegs bin und dass das nicht hilfreich ist.

Wenn ich ganz still werde, dann sehe ich ein kleines Licht in der Ferne. Vielleicht ist das, was hier stattfindet, eine große Chance einander wirklich nahe zu kommen? Wenn wir uns gegenseitig den Raum lassen, unsere Zweifel, Ängste und Sorgen mitzuteilen. Wenn wir uns die Zeit nehmen und einander wirklich zuhören.

Wenn ich nun den Gedanken, dass er erkennen sollte, dass er da auf dem Holzweg ist, einfach mal bei Seite lasse… wenn ich still werde… und den anderen ohne diesen Gedanken anschaue? Wenn dieser Gedanke für einen Moment Pause hat? Wer wäre ich ohne den Gedanken?

Dann könnte ich stehen lassen, was er sagt. Ich könnte vielleicht sogar neugierig sein, wie er zu seiner Sichtweise kommt. Ich würde es wirklich wissen wollen und nicht mehr nur wegwischen wollen. Dann bleibe ich nicht fanatisch an meiner Position hängen, sondern bleibe offen für andere Stimmen. Dann könnte ich ihn wirklich sehen und vielleicht sogar erkennen, dass ich mit meinen Urteilen über ihn ein Stück weit auf dem Holzweg war. Das fühlt sich weit an. Ich kann durchatmen. Es ist dann weniger emotional, mehr sachlich. Vermutlich kann ich dann auch freundlicher rüberbringen, was mich bewegt. Kann mit ihm reden, ohne sofort ein Ergebnis haben zu müssen.

Ja, ich kann sehen, dass jetzt sowieso nicht der Zeitpunkt ist, etwas abschließend zu klären. Das gibt mir die Gelegenheit bei mir zu bleiben. Das gibt mir die Zeit, in Ruhe zu fühlen und zu prüfen, wie ich zu meiner Sichtweise komme. Fühlt sich mein Weg für mich richtig an?  Fühle ich mich damit von Herzen wohl? Wenn ich hier ein klares Ja finde, habe ich den Frieden in mir gefunden und brauche nicht unbedingt die Bestätigung vom anderen. Dann sehe ich seine Sichtweise nicht mehr als Bedrohung. Spüre ich jedoch in mir selbst Zweifel und Ungereimtheiten, dann kann ich ihm dankbar dafür sein, dass er mir genau das zeigt. Dann gibt es mir die Gelegenheit, mich selbst neu zu sortieren und ausrichten.

Möglicherweise bin ich ja auch auf dem Holzweg, weil die Sache hier gerade so komplex ist, so dass niemand alle Fakten auf dem Tisch hat und genau weiß, was wahr ist und was nicht. Das im Hinterkopf zu behalten ist gut, weil es mich demütiger macht. Es bringt mich in die Lage, von diesem „Ich weiß es aber - Standpunkt“ runter zu kommen.

Ich will nicht, dass er sieht, dass er auf dem Holzweg ist. Jedenfalls will ich es nicht in dem Sinne, dass ich über ihn rüber walze und ihn jetzt sofort dazu bringen will, es anders zu sehen. Sondern ich will, dass ich mit ihm wirklich in Kontakt komme. Meine und seine Sichtweise gleichberechtigt und achtungsvoll nebeneinander stehen lassen und dann einfach darüber reden. Natürlich könnte es bequem sein und schön, wenn er es einfach so sehen würde wie ich. Aber ich will, dass wir es gemeinsam schaffen, uns anzunähern und einander zu verstehen, weil daraus etwas Großartiges entstehen kann.

Kurz nachdem ich das Rohmaterial für diesen Blogbeitrag fertig habe, höre ich wie Jens Lehmann, ein Psychotherapeut, sagt: „Aus meiner Sicht befindet sich Deutschland gerade schlicht und einfach in Therapie.“. Ich muss schmunzeln. Er sagt weiterhin sinngemäß, wenn die Bedürfnisse der Menschen unerfüllt sind und sie dadurch in einen Konflikt geraten, entwickeln sie, oft schon im Kindesalter, drei bekannte Abwehrmechanismen:

Angriff („Wie kannst du nur so einen Blödsinn glauben!“)                                

Flucht („Mit dem rede ich nicht mehr darüber.“) oder                                        

 Erstarren (gelähmt sein, stumm bleiben).

„Wenn wir es jedoch schaffen, friedlich zu bleiben, nicht auf die Spaltung reinfallen und in Kontakt gehen, dann kann die Therapie erfolgreich verlaufen.“ Vielen Dank, Herr Lehmann, für dieses schöne Schlusswort.

Ja, möglicherweise ist dies eines der wichtigsten Dinge, die wir in dieser Situation lernen dürfen. Miteinander in Kontakt gehen, dem anderen zuhören, ohne zu ver– und beurteilen. Im Kleinen (der Zweierbeziehung) wie im Großen (der ganzen Gesellschaft).

 

 

 

 

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