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Sich selbst verbiegen

von Ute Netzmann
28.12.2020

Sie dachte, sie müsste das tun. Vielleicht dachte sie, sie müsste ihn in seiner Firma unterstützen oder am Wochenende mit ihm seine Mutter besuchen oder immer mit ihm schlafen, wenn er Lust dazu hatte. Ganz egal was es war. Auf jeden Fall dachte sie, sie müsse es tun.

Wer hatte ihr gesagt, dass sie es tun müsse? Da war ein kleiner Gedanke, der im Hintergrund eine Dauerschleife drehte.  „Wenn du das nicht tust, wird er enttäuscht von dir sein.“ Aber hinter diesem kleinen Gedanken lauerte tief versteckt ein noch schlimmerer Gedanke, der ihr sagte:

„Wenn du das nicht tust, wird er dich nicht mehr lieben!“

Dieser Gedanke zeigte seine Wirkung. Er löste Angst vorm Verlassenwerden aus. Also richtete sie ihr Verhalten nach ihrem Partner aus, um weiter geliebt zu werden. Zunächst fiel ihr das leicht. Sie war über beide Ohren verliebt und es machte Freude, ihm Wünsche von den Lippen abzulesen und diese zu erfüllen. Dass sie dabei manchmal ihre eigenen Bedürfnisse nicht hinterfragte und außer Acht ließ, fiel ihr kaum auf. Sie spürte auch zunächst nicht die Anspannung und den Druck, den der mächtige Gedanke in ihr erzeugte.

Mit der Zeit aber wurde sie unzufrieden. Auf die Idee, mit ihm darüber offen zu kommunizieren und ihm ihre Bedürfnisse mitzuteilen, kam sie jedoch nicht. „Er wird mich sonst nicht mehr lieben.“ Dieser Gedanke war so beängstigend, dass er selbst den kleinsten Gedanken an ein Gespräch zunichte machte. Ebenso unmöglich war es ihr in Erwägung zu ziehen, einmal nein zu sagen. Sie war nicht in der Lage, ihm ehrlich und auf Augenhöhe zu begegnen. Stattdessen heuchelte sie ihm etwas vor. Sie machte die Beziehung starr, zurrte sich selbst fest, engte sich selbst ein. Glaubte Leistung erbringen zu müssen, um nicht die Kündigung zu erhalten.

Innerlich wurde sie allmählich wütend und machte ihn für den Druck und die Anspannung, die sie nun deutlich spürte, verantwortlich.  Es schwelte in ihr und im Laufe der Jahre brachte sie ihre Wut von subtil bis sehr deutlich zum Ausdruck.

Hatte er ihr jemals gesagt, dass sie es tun müsse? Hatte er ihr gesagt, dass er sie sonst nicht mehr lieben würde? Nein. Da waren nur dieser Gedanke und diese Angst. Sie unterstellte ihm, dass er sie nicht bedingungslos lieben würde. Sie fragte ihn nie, ob er es tatsächlich von ihr erwartete. Dieses Gesetz hatte sie einfach selbst gemacht und sich selbst auferlegt.

Mit der Zeit entfernte sie sich mehr und mehr von ihm und erkannte nicht, dass ihr eigenes Verhalten nichts mit Liebe zu tun hatte. Denn Liebe kann man nicht erkaufen. Und es hatte nichts mit Liebe zu tun, weil sie ihm nicht vertraute und weil sie ihm unterstellte, dass er kein Verständnis für ihre Bedürfnisse haben würde. Außerdem hatte sie selbst kein Verständnis sich. Es fehlte ihr an Selbstliebe.

Aufgrund der fehlenden Kommunikation nahm sie ihm und sich die Möglichkeit des gemeinsamen Reifens und Wachsen. Sie zahlte den Preis, dass sie sich nicht wirklich kennenlernten und nicht wirklich nahekommen konnten. Im Grunde genommen verhinderte sie damit wahre Liebe.

Je mehr sie sich verbog, desto weniger liebte sie sich selbst. Und desto weniger konnte ihr Partner sie wirklich kennenlernen und sehen, wer sie tatsächlich war. Stattdessen sah er nur die Rolle, die sie spielte.

Er sah eine Frau, die sich angespannt selbst zu etwas zwang, schlechte Laune davon bekam und unzufrieden war. All das wirkte sich auf ihre Beziehung aus. All das machte sie letzten Endes in seinen Augen tatsächlich weniger liebenswert. Ihr Angstgedanke erfüllte sich. Aber nicht, weil sie etwas, das er erwartete, nicht tat. Sondern weil sie das, von dem sie glaubte, dass er es erwartete, widerwillig tat.

Hätte sie sich authentisch gezeigt, hätte er sie vielleicht in ihrer Offenheit, Ehrlichkeit, Verletzlichkeit und Unvollkommenheit lieben können. Er hätte eine lebensbejahende, lebensfrohe, sich selbst liebende Frau erlebt. Es hätte eine lebendige und befreite Beziehung entstehen können.

Und wenn er tatsächlich Erwartungen an sie gehabt hätte und sie tatsächlich nicht bedingungslos geliebt hätte, dann wäre das erst recht ein Grund gewesen nein zu sagen. Denn dann wäre ihr größter Angstgedanke sowieso schon wahr gewesen und sie hätte nichts mehr zu verlieren gehabt. Ob sie nun seine Erwartungen erfüllt hätte oder nicht, er hätte sie in jedem Fall nicht wirklich geliebt. Auch das konnte sie nicht sehen.

Gehen wir aber einmal davon aus, dass er sie liebte und dass sie es vor allem war, die meinte bestimmte Dinge tun zu müssen, um geliebt zu werden. Vielleicht war sie sogar die Einzige die diese Erwartung an sich selbst hatte. Ja, sie selbst war es, die glaubte, sie müsse so und so sein. Sie selbst hatte die Messlatte so hochgesteckt. Und sie selbst hatte sich erzählt, dass sie nicht liebenswert sei, wenn sie nicht dies oder das täte.

Zu all dem kam tragischer Weise, dass ihn ähnliche Gedanken quälten wie sie. Auch er glaubte, bestimmte Dinge tun zu müssen, scheute den offenen Dialog und gab ihr im Stillen die Schuld.

Bis die Liebe zerbrach.

„Er wird mich sonst nicht mehr lieben.“  Ein einziger Gedanke mit einer großen Wirkung.

Wie anders hätten ihr Leben und ihre Beziehung ohne den Gedanken verlaufen können?

Einmal einatmen und wieder ausatmen. Stille. Ruhe.

„Er wird mich sonst nicht mehr lieben.“

Wer wäre sie ohne diesen Gedanken gewesen?

Ohne den Gedanken, hätte sie zunächst einmal für sich klären können, ob sie die Dinge gerne und aus freien Stücken tun möchte. Da wäre klar gewesen – ah, ich kann hier eine Entscheidung treffen und dafür ist es gut, in mich hinein zu spüren. Was will ich und was will ich nicht? Sie hätte sich also zunächst selbst besser kennengelernt.

Vermutlich hätte sie es dann manchmal freiwillig und mit Freude getan. Ja, denn wenn sie nur an ihre eigenen Bedürfnisse gedacht hätte, hätte sie sich selbst auch nicht lieben können. Es wäre ihr ein Bedürfnis gewesen, etwas zu seinem Wohl beizutragen.  Aber nicht immer. Manchmal hatte sie auch nein gesagt. Sie wäre liebevoller mit sich selbst umgegangen und hätte für sich selbst gut gesorgt.

Vor allem aber hätte sie mit ihm darüber reden können und ihm ihre Bedürfnisse und Beweggründe mitgeteilt. Sie hätte ihm nicht gegrollt. Hätte ihm keine Schuld gegeben, sondern Verantwortung für ihre eigenen Entscheidungen übernommen.

Das hätte sich nach Freiheit und echtem Leben angefühlt. Ein entspanntes und zufriedenes Miteinander. Eine Art von Beziehung, die ich allen Menschen von Herzen wünsche.

 

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