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Der Zebrastreifen

von Susanne Große-Venhaus
29.04.2021

Ich so. Zu Fuß. Am Zebrastreifen.

Tüdeldületü. Hänsin-guck-in-die-Luft. Oder so. Was auch immer. Ich stehe da und warte. Darauf, dass ich endlich hier über diesen Zebrastreifen marschieren kann. Zu meinem Ziel. Dem in der Zukunft. Dem wo ich dann Dieses und Jenes machen werde. Darüber denke ich dann auch schonmal nach. Also über das Gleich und das Dieses und das Jenes. Das Etwas in ein paar Minuten, wenn ich erst den Zebrastreifen überquert und den Ort erreicht habe, zu dem ich gerade unterwegs bin.

Brummmmmm, brummmm, brummm, die Autos zischen an mir vorüber. Mit einem Schlag nehme ich das plötzlich wahr. Hier gibt es keine Ampel, die für mich zufällig gerade rot und für die Autofahrer zufällig gerade grün wäre. Dies hier ist ein Fußgängerüberweg. 

Hey ihr Vollpfosten da hinter eurem Steuer, soll ich es euch buchstabieren oder was?!?! Das hier ist ein Fußgänger-Über-(die Straße bring)-Weg. Ihr, ihr seid keine Fußgänger, ihr müßt anhalten. Aaaaanhalten!!!!

Mit einem Mal schießt die Wut in mir hoch. Eine hilflose verzweifelte Wut, die mir fast die Tränen in die Augen treibt. Am liebsten würde ich denen vors Auto rennen, das Einzige, was mich davon abhält, ist, dass ich schon noch ein bißchen leben will. Für einen Moment bin ich innerlich trotzdem kurz davor. Sollen sie doch sehen, was sie da angerichtet haben, wenn ich dann blutüberströmt auf deren Motorhaube liege.

Mit einem Wenn-Blicke-Töten-Könnten schaue ich dem nächsten Mensch am Steuer in die Augen. Es wirkt. Endlich kann ich passieren.

Passieren tut in der Folge aber noch viel viel mehr.

Erstmal habe ich diese hochkochende Wut noch in mir und zugleich, diese kleinmachende Verzweiflung. Mal wieder, ich bin nicht gesehen worden. Die sind einfach ungebremst über "meinen" Zebrastreifen gerast. Ohne Rücksicht auf Verluste.

Ich bin längst an meinem Ziel angekommen. Ich könnte jetzt Dieses und Jenes machen, das wofür ich gekommen bin, worauf ich mich eben noch gefreut habe. Doch jetzt färbt der Groll alles sauer ein. Ich kann mich nur mit Mühe und Not konzentrieren, in mir brodelt und brodelt es. Angekommen sein? Fehlanzeige. Eben noch in der Zukunft bin ich jetzt in der Vergangenheit.

Die Work fällt mir ein. Aber was gibt es da zu worken? Ist doch ein Fakt, die sind einfach weitergerast am Zebrastreifen und das dürfen die nicht. Punkt. Die waren, es, die was falsch gemacht haben und ich, ich bin das Opfer. Punkt. Oder?

Oder?...... Ja, oder? Könnte es noch eine andere Sichtweise geben? Wäre das möglich?

Mit der Work gehe ich zurück an den Ort des Geschehens.

"Die Autos sollten nicht ungebremst über 'meinen' Zebrastreifen rasen." Ja, das ist der Satz der mir die Galle hochschießen lässt und ja, das ist verdammtnochmal wahr!!

Dann aber gerät mein innerer Besserwisser ins Stocken. Ich verstehe zwar nicht, warum, aber ich kann nicht sicher wissen, ob das wahr für mich und diesen Moment ist.

Oh wow. Jetzt bin ich neugierig geworden, was es da zu entdecken gibt. Im Zuge der Work finde ich, dass ich ja als Hänsin-guck-in-die-Zukunft überall war, nur nicht an diesem Zebrastreifen. Ich war überhaupt nicht präsent. Für die Menschen am Steuer habe ich wahrscheinlich ausgesehen, wie jemand, der vielleicht nur zufällig dort auf dem Bordstein rumsteht oder allenfalls wie jemand, der ein wenig un-entschieden über die Frage nachdenkt "Überqueren oder nicht überqueren. Das ist hier die Frage." Logisch, dass die mich nicht in meinem Philosophieren stören und weiterfahren.
 

In dem Moment, als ich das erste Mal wirklich DA und präsent war, hat der nächste Wagen sofort angehalten. DAS ist Fakt!

Und mehr noch, mit den Umkehrungen eröffnet sich mir eine Welt, die einfach ungemein faszinierend ist. Sie ist mir nicht im Geringsten fremd und doch habe ich sie selten mit einer solchen Klarheit gesehen:

Ich sollte nicht ungebremst über meinen Zebrastreifen rasen. Ich sollte nicht ungebremst über die Zebrastreifen meines Lebens rasen.

Wartend am Zebrastreifen war es mir wichtiger über Dieses und Jenes nachzudenken, als einfach mal dort zu sein.

Frau. Zu Fuß. Einen kurzen Moment wartend. Den Verkehr beobachtend. Am Zebrastreifen. In Kommunikation gehend, mit den Autos und ihren Fahrer'innen. Stummer Dialog. "Ich möchte passieren." "Okay, ich halte an." "Danke dir, ein gutes Leben wünsche ich dir noch." "Ich dir auch, es war mir eine Ehre."

Begegnungen. Ich, Mensch im Auto, die Straße, das Leben.

Wie oft rase ich über die Zebrastreifen meines Lebens? Die, die mir die Möglichkeit geben, einfach mal auszusteigen aus dem Trubel. Innezuhalten. Wahrzunehmen.

Wie geht es jetzt weiter? Was ist der nächste Schritt? Wer ist da noch? Blickkontakt. Mit mir, mit dem anderen, mit dem Leben.

Zebrastreifen.

Jahre ist dieses Erlebnis her. Zebrastreifen gab es viele. Ungebremst drüber gerast bin ich auch immer wieder. Auch das gehört zum Wahrnehmen dazu. Und wie gut, dass das Leben scheinbar unermüdlich immer wieder Zebrastreifen für mich zur Verfügung hat.

Anfang 2020. Ein großes C erobert die Welt und legt sie auf unbestimmte Zeit lahm.

Was für ein Zebrastreifen. Ich werde bremsen. Für mich. Für andere.  

Und ich werde innehalten. Und schreiben. Mein Buch. Das von dem ich noch keine Ahnung habe, wovon es handeln wird. Von Zebrastreifen vielleicht?

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