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Woraus wird Mut gemacht?

von Ute Netzmann
14.05.2021

Woraus wird Mut gemacht?

Sonntagsspaziergang mit der ganzen Familie. Damit es nicht zu langweilig wird, denkt der Vater sich ein paar Aufgaben aus. Jetzt wird balanciert.

Mit zittrigen Beinen steht sie auf dem Baumstamm. Es ist ihr nicht möglich weiterzugehen. Es geht nicht darum, über eine Schlucht zu gelangen und das andere Ufer zu erreichen. Der Baumstamm liegt einfach mitten im Wald. Aber dennoch - ihre Beine scheinen sie nicht mehr zu tragen. Mädchen, mach dir nichts draus, hüpf vom Baumstamm runter und such kleine Käfer, beobachte Ameisen oder entdecke eine neue Pflanze für deinen kleinen Steingarten!

Aber da fällt der entscheidende Satz. „Wer das nicht kann, der kann auch nicht Elefantendompteuse werden.“, sagt er. Bumm. Das kleine Mädchen, das Elefanten so sehr liebt, sackt in sich zusammen. Mit einem Schlag wird alles dunkel.

Wer hat denn da das Licht ausgeknipst?  

„Mein Vater nimmt mir jegliche Hoffnung.“ Dieser Gedanke verdunkelt alles.

Wenn er das so sagt, wird es wohl so sein, denkt sie. Er muss es wissen. Scham steigt auf und sie fühlt sich leer. Sie überlässt es ihm zu urteilen und gibt jegliche Macht und Selbstverantwortung ab. Sie schaut an sich herunter und sagt sich selbst, ich bin die, die nichts kann. Da ist kein „Na, das woll‘n wir doch mal sehen!“. Stattdessen gibt sie auf und spürt sich selbst nicht mehr.

Jemandem die Hoffnung nehmen, geht das überhaupt? Kann ihr jemand die Hoffnung, die in ihr leuchtet, kribbelt und sich ausbreitet, einfach wegnehmen? Ja, das geht. Und zwar genau dann, wenn sie glaubt, was er sagt. Wenn sie seine Wahrheit zu ihrer Wahrheit macht. Wer nicht über einen Baumstamm balancieren kann, kann nicht Elefantendompteuse werden. Sie glaubt es und nimmt sich damit selbst jegliche Hoffnung. Zerhackt und zerschlägt ihre Träume selbst. Ja, sie toppt es sogar noch. Denn sie fällt dieses „Ich kann nichts und aus mir wird nichts“- Urteil.

Glaubt ihr Vater denn tatsächlich, dass sie keine Elefantendompteuse werden kann? Vielleicht wollte er sie nur motivieren und aus der Reserve locken? Aber sie sieht sich selbst als klein, schwach und hilflos und ihr fällt überhaupt nichts Konstruktives mehr ein.

Sie könnte es doch üben! Sie könnte zu ihm sagen: „Vielleicht hast du Recht, Papa. Aber ich möchte Elefantendompteuse werden. Bitte hilf mir zu balancieren!“ Er könnte sie an der Hand nehmen oder ihre Schwester oder eine Freundin könnten ihr helfen. „Okay, das trau ich mir grad‘ nicht. Aber ich könnte es üben.“ Ja, sie könnte jeden Tag üben. Aber auf die Idee kommt sie nicht. Sie bleibt stumm. Sie knipst das Licht aus.

Halten wir den Film genau an der Stelle an, als der entscheidende Satz gefallen ist. Und nun verändern wir das Drehbuch ein wenig. Der Gedanke, dass ihr Vater ihr jegliche Hoffnung nimmt, taucht nicht auf. Diesen Gedanken kennt das Mädchen nicht. Wer wäre sie in der gleichen Situation ohne diesen Gedanken? Wie geht der Film weiter, wenn dieser Gedanke verschwunden ist?

„Wer das nicht kann, der kann auch nicht Elefantendompteuse werden.“, sagt er. „Boah, das ist ganz schön harter Tabak, was er da sagt.“, denkt das Mädchen. Aber ihr Verstand ist glasklar. Sie ist hellwach und fragt sich: „Kann das stimmen? Wie will ich jetzt darauf reagieren? Was kann ich für eine Lösung finden?“ Ihr Körper richtet sich auf. Ihr Kampfgeist ist geweckt. „Ah, mein Vater sagt mir, dass man sportlich und mutig sein muss, um Elefantendompteuse zu werden. Ja, das will ich. Dann trainiere ich jetzt.“

„Ich habe Angst, aber ich schaffe das. Am Anfang brauche ich deine Hand, Papa.“ Ja, mit der Hand klappt das ganz gut. Sie läuft bis zum Ende des Baumstammes und ihre Augen strahlen. Und noch einmal!

Das Mädchen sieht ihren Elefantendompteuse-Traum ganz klar vor sich. Der Traum ist so schön! Ihre Fantasie brennt mit ihr durch. In kindlicher Freude malt sie sich alles aus. Das setzt Lebenskraft und Energie frei. Sie ist voller Tatendrang und macht sich selbst Mut.

Und ihr Vater? Der ist beeindruckt von der Stärke seiner kleinen Tochter. Er hat eine Aufgabe. Er kann seiner Tochter helfen und das erfüllt ihn mit Freude.

Wie kann ihr jemand jegliche Hoffnung nehmen? Die Hoffnung ist in ihr. Die kann ihr niemand nehmen, außer sie selbst.

Elefantendompteuse wird sie nicht. Das ist einer ihrer Kinderträume, welchem weitere Träume folgen. Sie wird eine Frau, die ihre Träume verfolgt und einen neuen Gedanken entdeckt, den sie im Verlaufe ihres Lebens immer mehr als wahr empfindet: „Du kannst alles werden, wenn du nur daran glaubst.“

 

 

 

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