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Gerettete Freundschaft

von Ute Netzmann
15.02.2022

Meine Reise nach Berlin – war eigentlich keine Reise, sondern eine Flucht. Die Flucht vor dem Beziehungsdrama, in dem ich steckte. Ich brauchte Abstand und ein paar Tage ohne Streitigkeiten. Suchte Unterschlupf bei Freunden.

Einen Tag vor Abreise höre ich eine meiner Berliner Freundinnen am Telefon sagen, dass sie zu erschöpft sei, um Besuch zu empfangen. Ich könne nicht zu ihr kommen. Schockstarre. Ich glaube nicht richtig zu hören. Was? Sie lädt mich aus? Die Fahrkarten sind schon gebucht! Und ich brauche diese Auszeit unbedingt, um meine Wunden zu lecken!

Ich bin fassungslos und verärgert. In mir macht sich ein hässlicher kleiner Gedanke breit. „Sie lässt mich im Stich!“ Ein kleiner Gedanke, der den ganzen Raum einnimmt und große Wirkung zeigt.

In meinem Kopf ist nur: „Das kann ja wohl nicht wahr sein!“ Ich fange sofort an zu werten und zu verurteilen. Im Sommer war sie eine Woche lang bei uns und nun, wenn ich sie brauche, ist sie nicht für mich da. Das ist undankbar! Ihre Geschichte will ich gar nicht hören, bin nur mit meinem eigenen Leid beschäftigt.

Ich fühle mich hilflos und vor den Kopf geklatscht. So sieht es dann wohl auch in meinem Kopf aus. Da ist nur noch Matsche. Kein vernünftiger Gedanke kommt zustande. Ich sehe mich mutterseelenallein in Berlin rumlaufen. Ich lasse mein ganzes Kartenhaus einstürzen, lasse mich selbst im Stich.

Zu allem Überdruss erzähle ich mir die traurige Geschichte, dass sie sich nicht wie eine Freundin verhält und dass sie mich nicht liebt. Es ist, als wenn ich mir selbst das Schwert in die Brust ramme. Weil das aber zu schmerzhaft ist, drängt sich vor meine Trauer schnell der Ärger und ruft laut moralisierend: „Einen Tag vorher absagen - so etwas tut man nicht. Das ist unverzeihlich!“ In meinem Ärger kann ich Null Verständnis oder Mitgefühl für sie aufbringen, kann nicht sehen, dass es ihr wirklich schlecht gehen muss und erwarte, dass sie trotzdem für mich da ist. Und als sie das nicht tut, lege ich die Freundschaft auf Eis – für lange Zeit. Ich ziehe mich beleidigt zurück, lasse sie im Stich und verhalte mich selbst nicht wie eine Freundin.

Jahre später, nachdem ich The Work kennenlernte, frage ich mich: Wie anders hätte das Telefonat laufen können, wenn ich die Gedanken, dass sich mich im Stich lässt und sich nicht wie eine Freundin verhält, gar nicht gekannt hätte? Wenn es dafür in meinem Kopf keinen Platz gegeben hätte?

Meine erste Reaktion wäre gewesen: „Ach du Schande, wie schlecht geht es dir denn? Was hast du denn?“

Meine zweite Reaktion: „Ach, herrje, was soll ich denn jetzt machen?“

Und die dritte Reaktion: „Meinst du nicht, wir kriegen das doch irgendwie hin?“

Ich hätte meine Gefühle voll zum Ausdruck gebracht, mich mit allem was da ist gezeigt, jedoch ohne Vorwürfe. Ich hätte es nicht persönlich genommen und ihr wirklich zugehört.

Wir hätten ein gutes Gespräch gehabt, denn ich hätte mehr sagen können als nur „Das kann doch wohl nicht wahr sein!“

Ich hätte mich weiterhin mit ihr verbunden gefühlt und die Freundschaft nicht einfach weggeworfen.

Sie verhielt sich wie eine Freundin!  Weil sie offen mit mir redete und mir von ihrer Not erzählte. Freundinnen dürfen einander sagen, wenn es ihnen schlecht geht und das bedeutet auch nicht, dass sie einander im Stich lassen.                                                                    

Ich danke dem hellen Moment, indem ich erkannte, dass sie dieser wunderbare Mensch ist, den ich aufgrund ihrer einzigartigen Weise liebe. Ich bin dankbar für die wiedergefundene, wertvolle Freundschaft und dafür, dass sie mich nach all den Jahren mit offenen Armen empfing.

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