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Ich habe jetzt Handlungsvollmacht

von Maik Richter
31.03.2021

Heute habe ich jemanden bei einer Work begleitet:

Marion (ihr wirklicher Name wurde von mir verändert), Mitte 50, leitende Angestellte. Eine Frau, die mit beiden Beinen im Leben steht.

Marion ist gerade dabei, sich mit ihrem langjährigen Herzensthema ein zweites Standbein aufzubauen.
Meiner Meinung gehört sie zu den Menschen, die mit ihrer Arbeit die Welt aus vollen Herzen heraus ein kleines bisschen schöner machen wollen.

Doch irgendetwas hindert sie schon eine geraume Zeit daran, damit nach außen zu gehen.
Sie schiebt immer wieder andere Dinge vor, die sie unbedingt erst noch erledigen muss.

Immer, wenn sie kurz davor ist, sich zu trauen, flüstert eine innere Stimme zu ihr: „Du bist noch nicht gut genug“.

Das war auch der Grund, weswegen sie ursprünglich zu mir kam.
Und da ein stressiger Gedanke meist nicht alleine auftaucht, haben wir bereits eine ganze Reihe davon untersucht.

Heute steht ihre Befürchtung „Ich werde bloßgestellt“ auf der Tagesordnung.

Mit geschlossenen Augen begibt sich Marion innerlich in eine typische stressige Situation aus ihrem Arbeitsumfeld, in der sie sich bloßgestellt fühlt.

Ich bemerke, wie sie sofort zappelig wird und unruhig auf ihrem Sitz hin und her rutscht.
"Ich möchte jetzt am liebsten ganz dringend etwas essen, sonst halte ich die ganze Wut in mir nicht mehr aus" höre ich von ihr.

Ich frage sie: „Welche Bilder aus deiner Vergangenheit tauchen auf?“

Marion erstarrt.
Sie wird aschfahl im Gesicht und presst ihre Lippen fest aufeinander.
"Ich bekomme gerade richtige Magenkrämpfe" wispert sie mit schmerzverzogener Miene.

Ihre Augen füllen sich leise mit Tränen.

Da spüre ich es - sie ist wieder im Keller.

Marion ist wieder in ihrer Kindheit.
Sieben Jahre alt.
Sie muss immer und immer wieder in diesen Keller.
Mit ihm.
Alle wissen davon.
Doch keiner sagt etwas.

Ich fühle gerade eine große Hochachtung vor ihr.

Sie ist noch so klein. So verletzlich. So hilflos. So einsam. Ihre Scham und ihre Angst bringen sie fast um. Sie fühlt sich von der ganzen Welt im Stich gelassen. Sie will alles richtig machen. Eigentlich will sie gar nichts machen. Doch sie hat keine Chance. Sie kann nichts richtig machen. Ich sehe, wie sie weglaufen will. Sich verstecken. Ins Dunkel verkriechen. Keinen Menschen mehr sehen müssen.

Doch die erwachsene Marion bleibt in der Situation und stellt sich dem Schmerz.

Einem Schmerz, der sie heute noch, ein halbes Menschenleben später, von innen her aufzufressen droht.
Der seine Tentakel wie ein Riesenkrake aus der Vergangenheit nach ihr ausstreckt, um sie zurück zu ziehen ins Unerträgliche.

Ich schlucke. Es fällt mir schwer, die Distanz zu wahren.

 

Nach einer kleinen Mini-Meditation, mit der ich Marion aus ihren schmerzvollen Erinnerungen wieder in die Gegenwart hole, komme ich zu meiner nächsten Frage: „Wer bist du heute - jetzt und hier - ohne den Gedanken?“

Während ich sie dabei beobachte, wie sie sich langsam in die Situation hineinversetzt, stehen mir die Tränen in den Augen.
Doch dieses Mal vor Freude.

Es ist die totale Verwandlung:

Marion blüht richtiggehend auf. Sie strahlt über das ganze Gesicht. Alles an ihr ist pure Freude.

Als ich sie frage, wie sie sich fühle, antwortet sie wie aus der Pistole geschossen: "G r o ß"
"Mindestens 3 Meter groß bin ich!“ ruft sie voller Begeisterung. „Ich fühle mich präsent.
Ich kann entscheiden, was ich tue. Ich mache einfach das, was ich wollte.
Ich habe das Recht dazu, etwas gut zu finden oder etwas abzulehnen!!!
Ich bin sooooo groß! Ich habe eine ganz andere Flughöhe als sonst.“

Auf meine Frage hin, wie sie denn jetzt mit den anderen umgehe - ohne den Gedanken - sagt sie in meinen Augen etwas ganz Großartiges.

Anstatt ihre neue Größe auszunutzen, um endlich Rache zu nehmen, beschreibt sie mir:
„Ich beuge mich zu ihnen hinunter und begegne ihnen endlich auf Augenhöhe“.

Wow!

Bei der Umkehrung „Ich werde nicht bloßgestellt“ erwidert Marion sofort, dass das für sie total wahr wäre.
Das alles hat jetzt nichts mehr mit mir zu tun. Ich kann entscheiden und ich kann es selbst führen!“.

Ich wage mich an eine „Umkehrung ins äußerste Gegenteil“ und frage sie, was für sie das Gegenteil von "bloßgestellt" sein könnte.

Zu dem Zeitpunkt hätte einiges darauf gewettet, dass Marion schon an die Grenzen ihrer Begeisterungsfähigkeit gelangt wäre.

Doch auf meine Frage hin schreit sie mir fast entgegen:

Ja! Ja! Ich habe Handlungsvollmacht!
Das habe ich noch nie so deutlich gesehen, aber es ist definitiv wahrer als alles andere!
“.

Wenn mich jemand fragen würde, wie Glückseligkeit aussieht, würde ich in dem Moment einfach nur stumm auf Marion zeigen.

So viel Kraft in ein paar Fragen und zwei Umkehrungen!

 

Da ihre Kindheitserinnerungen schon mehrmals eine einflussreiche und vor allem schädliche Wirkung auf ihr heutiges Verhalten gezeigt hatten, bitte ich Marion am Ende unserer bewegenden Sitzung noch um etwas ganz Spezielles:

Ich frage sie, ob sie sich zutraut, zu ihren traumatischen Erlebnissen ihrer Kindheit ein Arbeitsblatt „Urteile über deinen Nächsten“ auszufüllen.

Damit könnten wir ihre einschränkenden Glaubenssätze sozusagen an der Wurzel untersuchen.

Ich bemerke deutlich, dass es ihr schwerfällt.
Doch schließlich stimmt sie zu: "Ich möchte endlich wieder frei sein und in Frieden leben können!"

Manchmal führt der Weg in die Freiheit durch den Schmerz.

The Work works!

Maik Richter

 

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