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Da, wo ich sein will

von Ute Netzmann
02.11.2021

Da, wo ich sein will

An meinem Küchenregal hängt seit Jahren eine Postkarte. Auf ihr ist ein unschuldiger kleiner Hase abgebildet. Dieser verkündet laut: „Heute mache ich NICHTS. Gar NICHTS!“ Und etwas leiser murmelt er vor sich hin: „Ich mache sonst auch nichts. Aber heute nehme ich mir noch nicht mal etwas vor.“

Diese Karte scheint nicht zu mir zu gehören. Sie scheint am falschen Küchenregal zu hängen. Dort vergilbt sie einfach vor sich hin. NICHTS machen gibt es bei mir nicht. Ich bin nie fertig, habe endlos zu tun und bin Meisterin im Schreiben immer neuer To-do-Listen. Manchmal schreibe ich mehrere Listen sortiert nach Dringlichkeit der Aufgaben. Da ist noch ein Blogartikel zu schreiben. Einige Mails warten auf Antwort. Ich muss mich um mein Kräuterbeet kümmern, einen Termin beim Zahnarzt machen, die überflüssige Versicherung kündigen, endlich mal das Kellerregal aufräumen usw.

Und dann gibt es noch die Dinge, die auf keiner Liste stehen. Sie geraten aber dennoch nicht in Vergessenheit, denn da gibt es eine Stimme in mir, die mich freundlicher Weise immer wieder daran erinnert. Diese Stimme sagt: „Du bist noch nicht weit genug. Du bist noch nicht da, wo du sein willst.“ Sie erzählt mir, dass ich noch viel zu lernen habe, dass ich noch nicht erleuchtet und weise genug bin.

Eines Tages laufe ich durch den Wald, verfolgt von der Stimme. Der quälende Gedanke, noch nicht da zu sein, wo ich sein will, scheint mir immer im Nacken zu sitzen. Ich lausche in mich hinein. Wenn ich diesen Gedanken für wahr halte, fühle ich mich angespannt und unter Druck. Aber wer macht mir denn den Druck? Den mache ich mir ganz allein! Ich bin unzufrieden mit mir, treibe mich mit der Peitsche an und gönne mir keine Pause. Selbst an Tagen, wo mein Körper mir deutlich verkündet, dass er mal eine Pause bräuchte, gönne ich mir nicht ausreichend Ruhe. Jeder Freundin, jedem anderen Menschen gönne ich von Herzen Ruhe und Erholung. Mit mir selbst bin ich jedoch nicht so liebevoll.

Du kannst doch nicht einen ganzen Tag Pause machen, geschweige denn mehrere Tage!, ruft die Stimme. Wirklich? Was würde denn passieren, wenn ich tatsächlich mal einen Tag lang gar nichts täte? Bräche dann alles zusammen? Einen Tag entspannen kann doch wohl kaum das Problem sein! Es würde meinen Lebensweg nicht gefährden. Im Gegenteil – Auftanken ist so wichtig! Selbst wenn ich eine Woche lang gar nichts täte. Wer würde sich daran stören, außer mir? Das ist ja interessant!

Plötzlich werden meine Schritte langsamer und ich merke – Oh ja, ich kann den Weg durch den Wald auch einfach mal schlendern. Mein Körper wird von einer Leichtigkeit ergriffen. Das fühlt sich sehr gut an. Gibt es einen Menschen auf der Welt, der das nicht mag – Entspannung, Erholung, Urlaub? Warum verwehre ich mir das selbst?

Da trifft mich eine Erkenntnis wie der Blitz. Es kann und wird nie ein Ende haben, wenn ich immer wieder denke, ich wäre noch nicht da, wo ich sein will. Mit diesem Gedanken werde ich das Ziel - wenn es denn eins gibt - nie erreichen können. Der Weg ist das Ziel. Diesen Spruch kenne ich schon lange. Aber solange ich ihn nicht in mein Leben bringe, bleibt es nur ein Spruch. Dann jage ich Tag für Tag einem Ziel hinterher und verpasse mein Leben.

Es könnte sein, dass ich an dem Ziel vorbeirenne und es nicht sehe. Es kann sein, dass das Ziel schon längst da ist, und ich sehe es nicht. Ich setze mich auf einen Baumstumpf und schließe die Augen. Warme Sonnenstrahlen scheinen mir ins Gesicht. Ja, in mir drin bin ich längst da, wo ich sein will. Nur meine Gedanken hinken hinterher. Sie plappern mir ständig ins Ohr, was ich noch erreichen müsste. Aber in mir drin ist längst alles da. Ich brauche nur still zu werden. Wenn ich still werde, bin ich da, wo ich sein will.

Meditation und Stille sind so wichtig und tun mir gut. Aber die Idee, dass es noch so viel zu erledigen gibt, hält mich davon ab, mir mehr Zeit dafür zu nehmen.

Und noch etwas anderes kommt zu kurz. Wenn ich immer im Tun bin, kann ich das kleine Kind in mir nicht hören, das ruft: „Lass uns mal singen, lachen, spielen!“ Dann vergesse ich mich selbst und gönne mir nicht das, wonach mir wirklich zumute ist.

Boah, das hört sich nun aber echt so an, als ob es an der Zeit wäre, mich von dem Gedanken, noch nicht da zu sein, wo ich sein will, zu verabschieden.

Wer wäre ich ohne diesen Gedanken? Wer wäre ich, wenn ich solch einen Gedanken überhaupt nicht kennen würde?

Ein Kichern, ein Lachen macht sich in mir breit. Dann wäre ich neugierig aufs Leben, könnte Dinge ausprobieren nur zum Spaß. Ich könnte wahrnehmen was ist, statt nur auf der Durchreise und im Vorbeihetzen zu sein. Könnte mich an allem, was schon da ist, erfreuen. Meine Freunde, meine Familie, meine Arbeit, die mich begeistert, das schöne Wetter und die wunderbare Natur, direkt vor meiner Haustür, Bücher, die mich inspirieren und berühren, gleichgesinnte Menschen und wunderbare Projekte.

Vor allem könnte ich dem, was mein Herz erfreut, einfach mehr Raum geben, ohne dabei ein Ziel erreichen zu müssen. Mit anderen Menschen singen, lachen, tanzen und musizieren, in der Natur sein, kreativ sein, basteln und malen. Einfach nur den Augenblick genießen.

Ich wäre frei, würde jeden Abend erfüllt und glücklich ins Bett fallen und mich auf den nächsten Tag freuen. Mein Körper würde es mir danken, denn er wäre dauerentspannt.

Und würde ich dann nur noch vor mich hin trullern, mich nicht weiterentwickeln und nichts mehr erreichen? Nein, denn ohne den Gedanken bin ich eine starke Frau. Eine Frau, die ihr Ding macht und die das wirklich gut macht! Die ihre Wünsche und Ziele verfolgt, die dranbleibt, etwas bewirkt und dabei Freude hat.

An meinem Küchenregal hängt eine Postkarte mit einem kleinen Hasen, die lange nicht zu mir zu gehören schien. Ich nehme den kleinen Hasen an den Händen und wir tanzen und wirbeln über die Wiese. Seine Ohren flattern im Wind. Ich bin froh, dass er so lange auf mich gewartet hat.

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